Der Abfall der Herzen – Thorsten Nagelschmidt [Rezension]
Samstag, Mai 19, 2018Das Buch wurde mir vom Rowohlt Verlag kostenlos als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Meine Rezension basiert ausschließlich auf meinen persönlichen Leseeindrücken und wird durch eine Bereitstellung des Buches nicht beeinflusst.
Kurzmeinung:
Hält nicht, was der Klappentext verspricht. Episodenhaft erzählte autobiografische Anekdoten eines normalen Studenleben der späten 90er bietet leider eher Langeweile als emotionale Spurensuche.Bewertung: 2 Stern
Klappentext:
»Wann hast du eigentlich aufgehört, mich zu hassen?«»Als du mir den Brief geschrieben hast.«
»Was für einen Brief?«
Und er beginnt sich zu fragen, was er sonst noch vergessen hat von diesem Sommer 1999. Nagel lebte damals in seiner ersten WG, hielt sich mit Nebenjobs über Wasser und verschwendete kaum einen Gedanken an die Zukunft. Damals, als ein Jahrhundert zu Ende ging, man im Regional-Express noch rauchen durfte und nur Angeber ein Handy hatten. Dann änderte sich alles, plötzlich und unvorhergesehen verwandelte sich seine Welt in einen Scherbenhaufen. Thorsten Nagelschmidt hat einen Roman über Liebe, Freundschaft und Verrat geschrieben. Über einen letzten großen Sommer und die Spurensuche 16 Jahre später.
Meine Meinung:
Im Februar war ich vom Fischer Verlag zur Book Release Party von "Der Abfall der Herzen" eingeladen. In einer coolen Location hat der Autor zusammen mit zwei Gästen Szenen aus dem Buch vorgelesen. Die Stimmung war richtig gut, die Chemie zwischen Nagelschmidt und seinen Gästen war super, es gab viel Situationskomik und wir haben viel gelacht. Neben den Lesungen hat der Autor einiges zum Buch und zur Entstehung erzählt und natürlich gab es auch Livemusik (da Nagelschmidt nicht nur Autor, sondern auch Musiker ist). Nach diesem tollen Abend habe ich mich sehr auf die Lektüre des Buches gefreut. Da ich die gehörten Passagen als sehr witzig in Erinnerung hatte, habe ich mich auf viel Lachen beim Lesen eingestellt.Doch dann kam sehr schnell die Ernüchterung. Ich weiß nicht, ob die ausgelassene Stimmung gefehlt hat, oder das Witzeln zwischen den Vorlesern, aber beim selber Lesen waren die ganzen Szenen dann irgendwie gar nicht mehr lustig.
Der Autor vertieft sich im Jahr 2015 in seine Tagebücher und schwelgt in Erinnerungen aus dem Jahr 1999. Er erzählt von seinem WG- Leben als Student, seinen Freunden, seiner ersten großen Liebe und der Trennung, vom Kiffen, Feiern, Musik. Alles schön und gut, aber eben auch sehr... normal.
Für mich hatte dieser Roman keinen Mehrwert.
Der Autor wechselt immer wieder zwischen Passagen in der Gegenwart und Anekdoten aus der Vergangenheit. Allerdings hatten beide Zeiten keinen richtigen Reiz für mich. Die Begebenheiten waren nicht besonderes lustig, nicht besonders spannend, nicht besonders tiefgreifend. Dadurch stellte sich bei mir beim Lesen schnell Langeweile ein und ich musste mich aufraffen, überhaupt weiterzulesen.
Wirklich schade, denn der Klappentext verspricht etwas anderes und auch nach der Lesung hatte ich wie gesagt eigentlich einen anderen Eindruck von dem Buch.
Als positiv kann ich vermerken, dass sich beim Lesen sofort das Gefühl der 90er eingestellt hat und der Autor die Stimmung sehr gut eingefangen hat.
Auch das Thema der selektiven Erinnerung fand ich ganz spannend. Wie erinnern wir uns an Dinge? Was behalten und was vergessen wir? Wie verändern wir vielleicht auch unsere Erinnerungen? Nagelschmidt macht bei seinen Nachforschungen die Erfahrung, dass jeder der Interviewten bestimmte Situationen etwas anders in Erinnerung hat und so jeder seine eigene, subjektive Wahrheit bildet. Die Abschnitte, die um diesen Gedanken kreisen, fand ich gelungen. Da hätte man vielleicht einen größeren Schwerpunkt setzen können. Insgesamt gehen diese interessanten Aspekte nämlich in der trägen Erzählung unter.
"Ich weiß, da lauert eine Geschichte, und ich weiß, dass ich sie erzählen will. Die Frage ist nur, ob ich sie zu packen kriege." (Aus "Der Abfall der Herzen", S. 319)
Meine Antwort darauf: leider nein.
Fazit:
Leider meist eher etwas langweilig. Thorsten Nagelschmidt blickt zurück auf den Sommer 1999, auf seine Studentenzeit, wilde Parties, Freundschaft und die große Liebe.Es ist ganz nett, um sich mal wieder den 90er Vibes hinzugeben. Auch die Passagen über die selektive Erinnerung fand ich ganz interessant. Aber alles in allem hat mich der Roman nicht vom Hocker gehauen. Es fehlte der Spannungsbogen. Diese Reminiszenz an Nagelschmidts Jugend mag für ihn gewinnbringend gewesen sein – für mich als Leserin war es aber höchstens ganz nett, meistens aber eher etwas öde.
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Biblio
Verlag: S. Fischer
Seiten: 448
Preis: 22,00€ (Hardcover); 18,00€ (eBook)
Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar.
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Plauderecke:
Hattet ihr das auch schon, dass ihr ein Buch auf einer Lesung total cool fandet, und beim Lesen dann enttäuscht wart?Habt ihr "Der Abfall der Herzen" auch schon gelesen? Und hat es euch vielleicht besser gefallen?
9 Kommentare
Das ist ja wirklich schade, insbesondere, da Du Dich ja sehr darauf gefreut hattest.
AntwortenLöschenJa, fand ich auch. Aber so ist das eben manchmal. Vielleicht waren nach der tollen Lesung meine Erwartungen auch einfach zu hoch.
LöschenHallo Julia!
AntwortenLöschenManchmal ist es mit Büchern wie mit einem guten Glass Wein, das im Urlaub am Meer fantastisch schmeckte und plötzlich zu Hause seltsam schal ist. Die Stimmung ist dahin und irgendwie mag es dann einfach nicht so richtig schmecken.
Wenn der Autor sein Buch richtig gut vorliest, ist das für mich oft reizvoller als selbst zu lesen. Zusätzlich klingt die von dir beschriebene Situation nach einer ganz besonders tollen Lesung.
Der Teil mit der selektiven Erinnerung klingt sehr spannend. Ich mache mir immer mehr Gedanken wo der Unterschied zwischen (unbewussten) Lügen, verdrehter Wahrheit und selektiver Erinnerung ist. Wo liegen hier die Grenzen? Wie kann ich selbst sicher gehen, dass ich mir die Wahrheit nicht verdrehe, sondern ich Situationen einfach anders wahrnehme?
Liebe Grüße
Sabrina
#litnetzwerk
Liebe Sabrina,
LöschenOh, das ist wirklich eine richtig gute Beschreibung dafür, wie es mir mit diesem Buch ging! Genau das!
Die Lesung war wirklich genial und die Stimmung so toll. Da konnte das alleine Lesen wahrscheinlich einfach nicht mithalten.
Ja, den Teil mit der Erinnerung fand ich ja auch interessant. Die Dinge, die du schriebst, werden auch alle in dem Roman thematisiert. Vielleicht wäre das dann ja was für dich?
Danke für deinen lieben Kommentar.
Liebe Grüße, Julia
Hallo Julia!
AntwortenLöschenDas Buch hört sich tatsächlich sehr vielversprechend an, was den Klappentext angeht. Aber genau diese Situation hatte ich auch mit "Rimini" von Sonja Heiss. Es hieß immer, das Buch sei unglaublich lustig & darauf hatte ich mich , im Gegenteil, ich fand es auch eher langweilig.
Vor kurzem war ich auch bei einer Lesung zu "Fallensteller" von Saša Stanišić und er hat das so super lustig und voller Elan vorgelesen, dass ich Angst habe, dass ich es später selbst nicht so witzig empfinden werde.
Liebe Grüße,
Pia
Liebe Pia,
LöschenTut mir leid, dass du die Erfahrung auch schon machen musstest. Aber da bin ich ja auch irgendwie froh, dass ich nicht die einzige bin, der es so geht. Dachte schon, mit mir stimmt was nicht. ;D
Ich drücke dir aber ganz fest die Daumen, dass es dir mit "Fallensteller" nicht so gehen wird.
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende. <3
Wie schade, dass der Autor das Live-Ambiente nicht in Schriftform umwandeln und im Buch konservieren konnte. Ich stelle es mir ähnlich wie fremde Urlaubsfotos vor, wenn man den Eeinnerungen eines anderen lauscht, denn da geht ja auch immer viel verloren und die Urlauber selbst haben den meisten Spaß an solchen Foto-Abenden.
AntwortenLöschenDas Phänomen der selektiven Erinnerung begegnet mir auch oft und ich bin einerseits überzeugt, dass meine Version stimmt und andererseits oft richtig verblüfft, wie anders Freunde und Familie sich an eine Begebenheit erinnern. Das Thema alleine schon wäre sicher eine tolle Grundlage für ein populärwissenschaftliches Buch - oder einen Thriller :-)
LG Gabi
Liebe Gabi,
LöschenJa, das mit den Urlaubsfotos ist vielleicht ein ganz guter Vergleich. Und das mit der Erinnerung ist wirklich ganz spannend. Durch mein Studium habe ich ja auch schon einiges über das Phänomen gelesen. Ob es dazu auch Populärwissenschaftliches gibt ´, weiß ich gar nicht. Könnte dir ein paar Fachbücher empfehlen. ;D
Als Thriller gibt es das doch schon ein bisschen, oder? Mir fällt da spontan "Girl on the train" oder auch "Woman in dahin 10" ein. Das sind ja beides Protas, die sich nicht so richtig auf ihre Erinnerungen verlassen können. Aber es trifft das Thema vielleicht nicht so richtig im Kern. Vielleicht kann Jürgen uns da ja mal was zu schreiben! :D
LG
Hallo Julia,
Löschenein Buch, das sich direkt mit der unterschiedlichen Erinnerung an das selbe Ereignis befasst, fällt mir gerade auch nicht ein. Sicher kommt das in Büchern regelmäßig vor, wenn man sich z. B. an einen alten Streit ganz unterschiedlich erinnert und jeder meint, der andere wäre am Zerwürfnis schuld. Und wenn man mal die Erinnerungen vergleicht, kommt man drauf, dass das alles doch nicht so war. Kenne ich auch aus dem richtigen Leben ;-)
In die Richtung geht auch ein bisschen "Fremd" von Poznanski und Strobel, das mir genau wegen dem Spiel mit Wahrnehmung und Erinnerung gut gefallen hat.
Und ja, wenn Jürgen was in diese Richtung schreiben wollte, fände ich das toll!
LG Gabi
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