Sommernachtsreigen – Anna Herzig [Rezension]
Freitag, Juni 22, 2018Das Buch wurde mir vom Verlag Voland & Quist kostenlos als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Meine Rezension basiert ausschließlich auf meinen persönlichen Leseeindrücken und wird durch eine Bereitstellung des Buches nicht beeinflusst.
">>Keine Ahnung, was du hören willst.<< >>Geht ja nicht darum, was ich hören will, sondern wie's wirklich ist.<<" (Sommernachtsreigen, S. 79)
Kurzmeinung:
Ein ungewöhnliches Buch erzählt von einer ungewöhnlichen Nacht im Leben von drei gewöhnlichen Menschen –mit ganz normalen Ängsten und Sorgen, Träumen und Wünschen, Humor, Fehlern und Leidenschaft.
Bewertung: 4 Sterne
Klappentext:
Eine sitzengelassene Frau, nennen wir sie Hannerl, fliegt nach Istanbul und schreibt die Geschichte einer schicksalhaften Begegnung auf: die Geschichte einer Nacht an der Haltestelle am Wiener Brunnenmarkt, mit Jägermeister im Flachmann, einem langen Gespräch, vielen verpassten Bussen ― und einer großen Überraschung. Die Geschichte von zwei Männern, die am Ende weit mehr teilen, als wir uns anfangs auszumalen wagten. Es ist die Geschichte von Bertl und Pawel. Und Hannerl. Voller Empathie für ihre liebenswerten Protagonisten und mit ausgeprägtem Sinn für Situationskomik erzählt Anna Herzig von einer Nacht, die das Leben dreier Menschen plötzlich auf Null setzt.Meine Meinung:
Das Buch erzählt die Geschichte von einer ungewöhnlichen Begegnung in einer schönen Sommernacht. An einer Bushaltestelle trifft der Bertl den Pawel. Ersterer hat zu viel getrunken und verwickelt den zweiten in ein Gespräch. Und wie es mit Gesprächen unter Alkoholeinfluss mitten in der Nacht nun mal so ist, gibt es auch hier einen Wechsel zwischen Belanglosem und Philosophischem. Nach und nach öffnen sich die beiden Männer immer mehr. Sie sind betrunken, beide einander völlig fremd –was haben sie schon zu verlieren. Und so reden sie. Völlig offen, völlig frei.">>Ich bin kaputt.<< >>Das sind wir alle, [...] nur redet keiner darüber<<" (Sommernachtsreigen, S. 121)
Die Charaktere zeigen sich so, wie sie sind. Zumindest in dieser Nacht. Sie sind ehrlich zu einander, aber auch zu sich selbst. Sie sagen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Und dadurch kommt es, dass wunderschöne poetische Sätze direkt neben vulgärer Sprache und Flüchen stehen. Eine sehr interessante Kombination, die diesen besonderen Stil des Buches ausmacht. Eine weitere Besonderheit im Stil ist, dass das Buch zu einem Großteil aus Dialogen besteht und ohne viele Beschreibungen und Schnörkel auskommt.
Sehr interessant ist die Kombination der Charaktere. Nach und nach kommt nämlich heraus, dass Bertl sich betrinkt, weil seine Frau Johanna ihn betrügt. Und das Pawel Johannas Affäre ist. Der betrogene Ehemann trifft mitten in der Nacht den Liebhaber seiner Frau. Da kommt es zu viel Gefühl, aber auch zu überraschend viel Witz und Leichtigkeit.
Die Geschichte beschäftigt sich mit allem, was zum Menschsein dazugehört. Mit Mut, Tod, Angst, Sehnsucht, Trauer, Einsamkeit, Leidenschaft. Es geht um Liebe, Sex, Beziehungen und die Aufs und Abs. Das nicht alles immer rosarot ist. Sondern das Beziehungen auch Arbeit sind; und anstrengend.
Aber immer wieder wird diese Schwere auch unterbrochen durch ganz unerwartete Situationskomik. Und die ist so stimmig, dass sie die ernsten Themen nicht ins lächerliche zieht, sondern sich realistisch in die Geschichte einfügt und die Leser*innen aufatmen lässt. Und zum Schmunzeln bringt.
Das einzige, was mich gestört hat, ist, wie in der Geschichte manchmal über Frauen geredet wird. Wenn sie zum Beispiel auf ihr Geschlecht reduziert werden, oder objektifiziert werden. Etwa wenn Bertl diesen Satz über seine Frau Johanna sagt: "Das ist es jetzt. Diese eine Muschi, die alles wert ist." (S.88). Oder auch wenn Bertl Pawel fragt: "Magst du sie [Johanna] haben?" (S.103), als wäre sie sein Objekt, sein Eigentum, über das er nach belieben verfügen kann. Finde ich halt nicht so cool.
Ich verstehe schon die Intention. Im Kontext der absoluten Ehrlichkeit wird auch hier nichts beschönigt, nichts verstellt. Und wenn die Männer so etwas eben denken, sprechen sie es in dieser Nacht in diesem Buch eben auch aus. Dennoch reproduziert es Sexismus und wird in meinen Augen auch nicht kritisch reflektiert oder sonst irgendwie eingeordnet. Die Aussagen werden einfach so stehengelassen. Und das hätte, finde ich, einfach nicht sein müssen.
Insgesamt hat es mein Lesevergnügen nicht gestört. Ich finde es trotzdem großartig, nur hat es einen bitteren Beigeschmack bekommen.
"Das Leben ist phasenweise unerträglich beklemmend, man fühlt sich nicht mehr menschlich, eher wie eine fremdgesteuerte Hülle (...)." (Sommernachtsreigen, S.51)
Fazit:
Das Buch hat einfach alles: tiefe Gefühle, ernste Themen, aber auch überraschenden Witz und jede Menge Situationskomik. Am meisten begeistert hat mich aber, dass die Charaktere so absolut ehrlich sind. Und das in einer Konsequenz, die ich so noch in keinem anderen Buch gelesen habe.-Anzeige-
Meinen herzlichen Dank an den Verlag für das Bereitstellen des Rezensionsexemplars.
Biblio
Verlag: Voland & Quist
Seiten: 176
Preis: 18,00€ (Hardcover, wie immer bei dem Verlag sehr hübsch mit Lesebändchen)
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3 Kommentare
Hi Julia,
AntwortenLöschenich musste bei deiner Kritik an "Nordwasser" denken, was ich Anfang Juni gelesen habe. Da sprechen einige Männer auch sehr vulgär über Frauen. Es passte aber, da es vom Setting und den Charakteren (Matrosen / Harpunier) somit realistisch war (ich weiß gerade nicht, ob Du das Buch auch gelesen hast?). Da störte es mich nicht, dass es nicht kritisch reflektiert wurde.
Deine Kritik kann ich verstehen. Wenn diese Äußerungen aber einen rauen Ton darstellen sollen, ist es vielleicht authentisch?
Ich finde es wichtig anzusprechen. Momentan lese ich "Frühstück bei Tiffany" und ständig kommt das N-Wort vor. Mitte des 20 Jh. war das normal, ich frage mich aber, warum das heutzutage in kaum einer Besprechung zum Buch auftaucht (zumindest was ich bei Amazon und Goodreads so überflogen habe)... Deswegen finde ich es gut, dass Du den im Buch verwendeten Sexismus mit in der Rezension verarbeitet hast.
Viele Grüße,
Jemima
Ach, sehe gerade, dass Du "Nordwasser" tatsächlich schon gelesen hast.
LöschenLiebe Jemima,
LöschenVielen Dank für deine Worte. Das tut echt gut zu hören.
Hm, ja stimmt, Nordwasser habe ich auch gerade gelesen. Aber da ist mir das irgendwie gar nicht so aufgefallen. Da habe ich ja generell die raue und vulgäre Sprache angesprochen. Da wurde ich beim Lesen mit der Zeit wahrscheinlich so desensibilisiert, dass es mir dann gar nicht mehr so aufgefallen ist. Und da hat es auch echt sehr zum Kontext gepasst.
Ja, das N-Wort in neuen Übersetzungen zu verwenden finde ich auch sehr fragwürdig. Klar, zum historischen Kontext passt es ja, aber das könnte man ja auch in einem Vor- oder Nachwort erwähnen und es dann im Text ändern, finde ich.
Danke für deinen Kommentar und deine Gedanken zu dem Thema.
Liebe Grüße, Julia
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