Die Hochhausspringerin – Julia von Lucadou [Rezension]
Sonntag, November 04, 2018Kurzmeinung:
Ein wirklich starkes Debüt, das mich sehr beeindruckt hat. Julia von Lucadou erschafft eine Zukunftsversion unserer Gesellschaft, bei der es mich schaudern lässt, die aber gleichzeitig erschreckend realistisch erscheint. Sie wirft wichtige Fragen über den Leistungsdruck in unserer Gesellschaft, über Selbstoptimierung und Überwachung auf. Das ganze veranschaulicht sie gekonnt an der Gegenüberstellung zweier sehr interessanter Frauenfiguren, die sich gut kontrastieren. Eine Geschichte, die es sich zu lesen lohnt!Klappentext:
Riva ist Hochhausspringerin - ein perfekt funktionierender Mensch mit Millionen Fans. Doch plötzlich weigert sie sich zu trainieren. Kameras sind allgegenwärtig in ihrer Welt, aber sie weiß nicht, dass sie gezielt beobachtet wird: Hitomi, eine andere junge Frau, soll Riva wieder gefügig machen. Wenn sie ihren Auftrag nicht erfüllt, droht die Ausweisung in die Peripherien, wo die Menschen im Schmutz leben, ohne Möglichkeit, der Gesellschaft zu dienen. Was macht den Menschen menschlich, wenn er perfekt funktioniert? "Die Hochhausspringerin" führt in eine brillante neue Welt, die so plausibel ist wie bitterkalt. Julia von Lucadou erzählt von ihr mit der Meisterschaft der großen Erzählungen über unsere Zukunft.Meine Meinung:
Mit "Die Hochhausspringerin" erschafft von Lucadou eine erschreckend realistische Dystopie, in der die Leistungsgesellschaft absolut auf die Spitze getrieben wurde. In einer Welt, in der man nur so viel Wert ist, wie man leistet, darf man keine schlechten Tage haben. Denn Credits, Wohnort, Aufenthaltserlaubnis –wirklich alles hängt von der eigenen Leistung ab.Wenn man manche aktuellen Entwicklungen weiterdenkt, könnte eine zukünftige Gesellschaft tatsächlich so aussehen. Alles was zählt ist Produktivität und wie viel Leistung ein Mensch bringt
In dieser Welt treffen zwei sehr unterschiedliche Frauen aufeinander. Hitomi, die hart arbeitet, um ganz nach oben zu kommen. Und Riva, die dort schon angekommen ist und riskiert, alles zu verlieren, weil sie nicht mehr "funktioniert".
Was mich sehr schüttert hat, sind die Werte in dieser Welt. Wirklich alles dreht sich um die Leistungsfähigkeit der Menschen. Zum Beispiel soll eine Affäre nicht etwa beendet werden, weil es moralisch fragwürdig ist und die Partnerin oder der Partner emotional darunter leiden könnte. Nein, sondern weil das Ende einer Partnerschaft schlecht für die Produktivität ist. Das ist wirklich ziemlich zynisch, finde ich.
In dieser Welt ist es auch nicht per se schlimm, wenn es einem Menschen schlecht geht. Es ist nur seine Leistungsfähigkeit sinkt. Es geht nicht darum zu heilen, sondern nur darum Funktionalität wieder herzustellen.
Zwei interessante Frauenfiguren: Riva und Hitomi
Genau so ein Fall ist Riva. Sie war erfolgreiche Hochhausspringerin, hatte es aus den "Slums" –den sogenannten Peripherien– bis in den elitären Stadtkern geschafft. Doch von heute auf morgen schmeißt sie plötzlich alles hin, riskiert ihren ganzen Status. Und das ohne ersichtlichen Grund. Deswegen wird Hitomi engagiert. Die Psychologin soll herausfinden, was mit Riva los ist und sie wieder dazu bringen, zu funktionieren.Für Hitomi hängt viel an diesem Auftrag. Sollte sie nicht die gewünschten Erfolge erzielen, wird auch sie alles verlieren und muss zurück in die Peripherie, wo sie ein Leben im Elend erwartet.
Die Geschichte wird also angetrieben von zwei sehr starken Spannungsbögen:
Einerseits möchte man herausfinden, was mit Riva los ist. Was Auslöser für ihren plötzlichen Sinneswandel ist. Andererseits nimmt man großen Anteil an Hitomis Schicksal und was aus ihr wird.
Der Kontrast zwischen diesen beiden Frauenfiguren hat mir sehr gut gefallen. Hitomi, die gerade dabei ist, sich hochzuarbeiten und Angst hat alles zu verlieren. Und Riva, die auf dem Höhepunkt ihres großen Erfolges bereitwillig alles wegschmeißt, was sie sich aufgebaut hat.
Ich hatte beim Lesen richtig Herzklopfen, so sehr habe ich den Erfolgsdruck gespürt, unter dem Hitomi steht. In dieser Welt steht und fällt alles mit der Leistung.
Je mehr ich in diesem Buch gelesen habe, desto mehr hat sich das unangenehme Gefühl verstärkt, das ich gegenüber dieser dystopischen Welt empfunden habe. Dass der Wert eines Menschen ausschließlich an seiner Leistung bemessen wird.
Psychologisch interessant: Heilung, Optimierung und Produktivität
Auch wegen meines Studiums beschäftigt mich die Frage sehr, wie man mit Menschen in Krisensituationen oder mit psychischen Belastungen umgeht. Was steht im Vordergrund? Die Heilung des Patienten um des Patienten willens, oder die Wiederherstellung seiner Produktivität? Ist das überhaupt deutlich zu trennen?In dem Roman ist die Antwort scheinbar einfach. Riva soll wieder funktionieren. Was ihr fehlt, oder was der Auslöser war, ist eigentlich egal. Hauptsache, sie springt wieder und die Sponsoren bekommen ihr Geld durch die Werbeeinnahmen.
Versteckt wird das alles aber sehr geschickt unter dem Deckmantel der Sorge um die Gesundheit der Menschen. Man will ja schließlich nur das Beste für die Menschen. Ihre psychische und physische Gesundheit stärken. Das dadurch auch die Produktivität steigt? Purer Zufall.
Für mich hat von Lucadou hier sehr geschickt der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten. Schaut man sich den aktuellen Trend des "Selbstoptimierungswahn" an, sind da solche Tendenzen schon zu erkennen, finde ich. Schnell noch eine Achtsamkeitsmeditation in den vollen Terminplan einschieben. Nicht, weil man es wirklich will und das dem eigenen Lebensstil entspricht, sondern weil man sich dadurch positive Outcomes verspricht. Oder in der dystopischen Welt der Hochhausspringerin: weil man es machen muss, um seine Credits zu erhöhen und seinen Status aufrechtzuerhalten. Dass das dem zugrundeliegenden Konzept von Achtsamkeit komplett widerspricht, ist dabei egal.
Das sind für mich persönlich total spanende Fragen. Kann etwas prinzipiell Gutes, wie Achtsamkeit und Meditation auch seine positive Wirkung verlieren, wenn man es aus den falschen Gründen macht?
Ein zweiter spannender Aspekt war für mich die totale Überwachung, die in dieser zukünftigen Welt stattfindet. In der Geschichte findet eine fast vollständige Überwachung der Menschen statt. Überall sind Kameras, man wird über Handy und Tablet immer geortet, die Fitnesstracker liefern weitere Daten zu Schlaf und Ess- und Trinkgewohnheiten. So wird jeder Einzelne zum gläsernen Menschen. Doch in dem Buch gibt es keinen per se "bösen" Staat mit bösen Absichten, der die Daten ausnutzt, um Macht auszuüben und Angst und Schrecken zu verbreiten. Es geschieht ja alles unter dem Deckmantel der Fürsorge für die Bewohner. Es geht um die "Optimierung" der Menschen. Ein hehres Ziel? Und gerade weil diese Böswilligkeit fehlt, macht es für mich die Situation irgendwie noch unangenehmer, weil ich kein richtiges Feindbild hatte, keinen klaren Gegner, kein schwarz-weiß.
Diese technische Überwachung lieferte für mich auf jeden Fall einen zweiten, reizvollen Blick auf das vorherrschende Thema der "Optimierung des Menschen" und die Erhöhung seiner Leistungsfähigkeit.
>>"Macht es dich nicht wütend, dass wir nichts selbst entscheiden können?" "Sie versuchen ja nur, unser Potenzial zu erkennen und uns zu fördern. Du kannst ja immer noch nein sagen." "Wen kennst du, der schon mal nein gesagt hat?"<< (Aus "Die Hochhausspringerin", S. 84)
Fazit:
Die Hochhausspringerin von Julia von Lucadou ist ein absolut gelungenes Debüt, das uns in eine erschreckende Zukunftswelt entführt und damit spannende Fragen auch für die heutige Gesellschaft stellt. Wie wichtig ist uns der Mensch, wie wichtig seine Leistung. Wie weit wollen wir gehen, in den Bereichen Selbstoptimierung und Tracking?Das alles wird sehr spannend und anschaulich verpackt in eine Geschichte, die um zwei interessante Frauenfiguren kreist, die sich wunderbar kontrastieren und ergänzen.
Das Buch wurde mir vom Hanser Verlag kostenlos als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Meine Rezension basiert ausschließlich auf meinen persönlichen Leseeindrücken und wird durch die Bereitstellung des Buches nicht beeinflusst.
Biblio
Verlag: Hanser
Autorin: Julia von Lucadou
Seiten: 288
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Plauderecke:
Habt ihr das Buch schon gelesen? Wie hat es euch gefallen?Und wie steht ihr dem Thema der "Selbstoptimierung" gegenüber? Was ist eure Meinung zur Leistungsgesellschaft? Könntet ihr euch vorstellen, dass sich die Gesellschaft in so eine Richtung entwickelt?
Ich bin sehr gespannt auf eure Meinung!
5 Kommentare
Hallo liebe Julia
AntwortenLöschenDieses Buch ist mir in den letzten paar Wochen sehr oft begegnet und ich denke, dass ich es mir auch bald einmal organisieren möchte, da es wirklich sehr vielen Bloggerinnen und Blogern, denen ich vertraue, sehr gut gefallen hat.
Alles Liebe dir
Livia
Liebe Livia,
LöschenAlso ich kann dir dieses Buch wirklich nur ans Herz legen. Es hat mich sehr beeindruckt uns gehört zu meinen Highlights in 2018. Wünsche dir schon mal viel Spaß mit der Lektüre. Lass mich gern wissen, wie es dir gefallen hat.
Liebe Grüße, Julia
Hallo Julia,
AntwortenLöschendas Buch steht schon auf meiner Leseliste, aber Deine Meinung dazu hat mir nochmal vie mehr Lust auf das Buch gemacht.
Vielleicht fällt es mir wegen meiner persönlichen Lebenssituation nur mehr auf oder es ist tatsächlich so, dass die Menschen zunehmend anders entscheiden, wenn es um die Wahl Geld oder Freizeit, Beförderung oder Lebensqualität geht? Deshalb ist das Thema Leistungsfähigkeit, Produktivität oder Achtsamkeint und ganz persönliche Lebensqualität, eine Stufe zurücktreten, einen Gang langsamer, mehr genießen, die Ansprüche herunterschrauben für mich ganz besonders interessant.
Das Themengebiet Überwachung und Kontrolle und die Rückmeldung von bestimmten Parametern, die man erreichen sollte, und wie sie das eigene Leben beeinflussen, ist natürlich auch interessant. Deshalb finde ich das Buch doppelt spannend. Und Deine Rezension hat das nur noch bestätigt.
LG Gabi
Liebe Gabi,
LöschenIn diesem Buch stecken wirklich unheimlich viele interessante Themen, die auf eine sehr spannende Art und Weise betrachtet werden, finde ich. Mich hat das Buch beim Lesen sehr bewegt und auch nach Ende der Lektüre beschäftigen mich die Themen immer noch.
Es werden wirklich wichtige Fragen aufgeworfen, und auch zur richtigen Zeit, finde ich. Denn wir als Gesellschaft müssen uns spätestens jetzt Gedanken machen und die Weichen stellen, dafür, wie wir in Zukunft damit umgehen wollen.
Ich kann dir das Buch wirklich nur empfehlen und bin sehr gespannt auf deine Meinung dazu.
Ganz liebe Grüße, Julia
das buch ist scheisse
AntwortenLöschenIch liebe den Austausch mit meinen Leser*innen und freue mich über jeden Kommentar.
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